Die Geschichte beginnt im Norden Deutschlands. Weit im Norden Deutschlands. Genau gesagt ist es Schleswig-Holstein, in der diese Geschichte beginnt. Dort, ziemlich genau in der Mitte Schleswig-Holsteins, gibt es einen kleinen Wald. Ein kleiner Märchenwald wenn man so will. Ziemlich dunkel und eine Menge Unterholz. Dort trifft sich Fuchs, Reh und was es sonst noch an Wildtieren gibt. In diesem Wald gab es aber auch einen kleinen Vogelbeerbaum. Er erfreute sich dort seines Lebens. Die Sonne schien, der Boden war gut für ihn, seine Eltern lebten in unmittelbarer Umgebung. Alles war so wie man sich ein schönes Leben vorstellt. Bis eines Tages eines dieser Menschenkinder vorbeikam. Das sollte sein Leben verändern. Es nahm einen Spaten und grub ihn aus. Es nahm ihn mit nach Hause. Er wurde in einen großen Topf gesetzt, ein bisschen gedüngt und jeden Abend kam das Menschenkind auf den Balkon und sagte zu ihm wie sehr es sich freue das er nun hier sei und so wunderbar gedeihe. Gut, das war auch kein schlechtes Leben. Er fühlte sich zwar manchmal ziemlich einsam auf dem Balkon, aber es gab doch noch ein paar andere Pflanzen mit denen er sich unterhalten konnte. So wurde das auch eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft auf dem Balkon. Dies alles war natürlich für die Menschenkinder nicht zu bemerken. Sie kennen ja die Sprache der Pflanzen nicht.
Doch nun begab es sich eines Tages, dass dieses kleine Menschenkind einen Freund fand. Der kam immer am Wochenende vorbei. Manchmal stand er am Balkon und bewunderte den Vogelbeerbaum. Aber dem kleinen Baum schwand nichts Gutes. Es verging zwar noch ein Jahr, aber dann war es soweit. Das Menschenkind zog um! Es packte alle seine Sachen, verstaute sie in großen Kisten und eines Tages stand ein großer LKW vor der Haustüre und alles wurde da hinein gepackt. Der Vogelbeerbaum hatte nicht damit gerechnet, aber irgendwann packte ihn jemand und er fand sich wieder in diesem großen LKW.
Es war eine sehr lange Fahrt. Als er wieder aus dem LKW ausgeladen wurde war er in einem ganz fremden Land. Es war Bayern, wie er später erfuhr. Sie packten ihn, ohne viel zu Fragen auf den Balkon der neuen Behausung. Es war schon spät im Jahr, Ende Oktober. Und es war sehr kalt. Er wurde dahin gepackt ohne seinen Topf, nur mit ein bisschen Erde um seine empfindlichen Wurzeln. Er hatte mit seinem Leben so ziemlich abgeschlossen. Die Nächte waren kalt. Das Menschenkind das in ausgegraben hatte wollte ihn sogar wegtun. Da hörte er einmal den Freund des Menschenkindes sagen: „Lass ihn doch. Wenn er den Winter so überlebt dann pflanzen wir ihn ein. Vielleicht wird noch mal was aus ihm.“ Da biss er die Zähne zusammen. Diesen Winter werde ich überleben! Dann werden wir ja sehen.
Er überlebte den Winter. Und das Menschenkind und sein Freund waren ganz aus dem Häuschen als er im Frühjahr die ersten Blätter austrieb. Eilig wurde ein Topf geholt und neue Erde. Dann wurde er darin eingepflanzt. Besser konnte es ihm nicht gehen. Das Frühjahr kam und er hatte viel Freude und dankte es den Menschen mit einer herrlichen Blütenpracht. Schon ein halbes Jahr danach zogen die Menschen noch einmal in eine andere Wohnung. Aber sie nahmen ihn mit. Für den Vogelbeerbaum war das ja nun seine Familie. Sie sorgten für ihn, sie kümmerten sich um ihn wenn er etwas brauchte. Manchmal, wenn der Freund des Menschenkindes an ihm vorbeiging, strich er zart über seine Blätter und sagte irgendetwas Nettes. Aber immer sehr leise, wahrscheinlich hatte er Angst dass ihn jemand dabei sehen würde und ihn dann für verrückt halten würde.
Mittlerweile hatte er den dritten Winter in einem Topf auf der Terrasse der neuen Wohnung überstanden. Nicht das er sich darüber beschwert hätte. Aber es war schon immer eine harte Zeit. Den Winter in einem so engen Topf, der wenig Wärme bot zu überstehen, war nicht einfach.
Jetzt schreiben wir das Jahr 2012. Wie die Menschenkinder sagen. Er freute sich auf ein neues Frühjahr. Die Sonnenstrahlen im März waren schön warm. Seine Blätter trieben bereits aus. Da passierte plötzlich etwas Unerwartetes. Er wurde aus seinem Topf gezogen. Gerüttelt, geschüttelt, bis er endlich im Freien stand. Dann wurde er in ein wunderbares großes Beet mit ganz viel Erde um ihn herum gepflanzt. Er konnte es gar nicht glauben. Seine eingeengten Wurzeln konnten sich frei ausbreiten. Er würde im nächsten Winter nicht mehr so frieren müssen. All die viele Mühe hatte sich gelohnt.
Als er eingepflanzt war, hörte er die zwei Menschenkinder sprechen. Es sagte: „Ist es nicht schön das er jetzt einen so wunderbaren Platz gefunden hat?“. Er antwortete darauf: „Es wird aber wohl auch sein letzter sein. Hier wird ihn keiner mehr ausgraben.“
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